Widerstand

Lange Zeit ist die Diskussion um den Widerstand gegen den Nationalsozialismus nun bestimmt gewesen durch das Ringen um Begriffe und Definitionen: aktiver und passiver Widerstand (Dieter Ehlers)1, Widerstand und Resistenz (Martin Broszat)2, politische Opposition – gesellschaftliche Verweigerung – weltanschauliche Dissidenz (Richard Löwenthal)3, Nonkonformität, Dissens und Devianz (u.a. Thamer/Schlögl).4 Zu all diesen und anderen Begriffen5 gibt es auch die positiven Gegenbegriffe: Anpassung, Konformität, Konsens usw. Das Problem ist nur, dass kaum eine Widerstandsgruppe und erst recht kaum ein einzelner „Widerständler“ sich ganz auf einen dieser Begriffe festlegen, sich mit einer dieser Bezeichnungen definieren lässt: Zu sehr überwiegen die Überschneidungen, so sehr liegen oft konträr erscheinende Verhaltensweisen in jedem untersuchten Fall neben- und übereinander. Die möglichen Herausforderungen durch das NS-System treffen auch bei Einzelpersonen und anscheinend homogenen Gruppen auf sehr unterschiedliche Reaktionen und Antworten; Zustimmung und Ablehnung, Mitmachen und Widerstand können durchaus parallel, aber abhängig von der speziellen Art der Herausforderung und der Position des potentiellen Gegenspielers zusammen auftreten. Das erschwerte den grundsätzlichen und totalen Widerstand, das zwang zu qualvollen Selbstdefinitionen und zweifelvollen Standortbestimmungen. Der kirchliche Widerstand ist dafür ein besonders gutes Beispiel: So entschlossen er bei Eingriffen in den innerkirchlichen Bereich, in der Verteidigung von Bekenntnis und Kirchenordnung agieren konnte, so unsicher blieb er in der Beurteilung der nicht direkt kirchlich bezogenen Aktivitäten des Regimes und trug sie z.T. begeistert und zustimmend mit – auch wenn sich vielleicht eine Ahnung (wie eine Form schlechten Gewissens) davon hielt, dass ein totalitäres Regime mit seinem allumfassenden ideologischen Anspruch auch eine totale Herausforderung für eine christliche Kirche, die ebenfalls und grundsätzlich den ganzen Menschen erfassen und gestalten will, bedeuten musste.

Auf der anderen Seite setzte das Regime die Maßstäbe: Wo es sich durch Abstinenz, Ablehnung, Auflehnung und Verweigerung herausgefordert fühlte, wurde sogar nicht als Widerstand intendiertes Verhalten zur Widersetzlichkeit, zum Affront, zum Reagenz für staatliches Eingreifen. Nicht ohne Grund haben daher Broszat Widerständigkeit vom Konflikt und Thamer vom Delikt her definiert; damit akzeptieren sie aber auch die Sichtweise des NS-Regimes. Nicht das Wollen des einzelnen oder einer Gruppe, sich zumindest teilweise den Ansprüchen und Forderungen des Regimes zu entziehen, sondern dessen Einschätzung durch eine misstrauisch-argwöhnische Regierung setzte die Maßstäbe, und so fand sich mancher als Widerständler eingeschätzt und verfolgt, der sich selbst eigentlich gar nicht so sehr im Widerspruch zur Obrigkeit gesehen hatte.

Die Ambivalenz widerständigen Verhaltens zeigt sich auch im Schicksal Kurt Gersteins, und sie wird um so deutlicher, als wir eine Fülle autobiographischer Quellen, zumeist Briefe, von ihm haben, wie sie in dieser Anzahl bei kaum einem anderen Widerständler vorhanden sein mögen. Aber diese Quellen sprechen keine einheitliche Sprache; das liegt an den jeweiligen Zeitumständen, an den Adressaten seiner Briefe und besonders auch an der Person Kurt Gersteins selbst. Kurt Gerstein war ein nicht unbegabter Selbstdarsteller, sein Hang zur großen Pose, die Betonung der Bedeutung seiner Person und seiner Tätigkeiten im jeweiligen Umfeld dürften nicht immer der Wirklichkeit entsprochen haben. Sein Hang zu großen Auftritten, seine finanzielle Großzügigkeit, ja manchmal eine gewisse überhebliche Egozentrik sind durchaus bemerkbar. Es fragt sich, ob hier nicht eine Prädisposition für seinen Widerstand liegt.

Aus dem Jungen, der in der Familie und der großen Geschwisterzahl um Anerkennung kämpft, wird der Schüler, der – trotz intellektueller Begabung – eher durch tolle Streiche als durch schulische Leistung auffällt, ja auffallen will. Früh stellt er sich in Opposition zu den Vorbildern und Leitvorstellungen, die die bürgerlich-konservative Welt der Familie und des Familienverbandes Gerstein prägen. Auch in den Schülerbibelkreisen und in der Berufsausbildung macht er durch spektakuläre Aktionen von sich reden, er fällt, nicht immer positiv, auf; er will sich unterscheiden, will bemerkt werden, will anders und etwas Besonderes sein. Leicht ist nicht mit ihm auszukommen, und auch gegenüber Vorgesetzten zeigt er nicht immer den erwarteten Respekt. Ob er sich und seine Situation immer richtig einschätzt, dürfte bisweilen fraglich sein; zu groß ist mitunter die Diskrepanz, etwa in der schwierigen beruflichen Phase nach seinem Ausscheiden aus dem Staatsdienst als Bergassessor, zwischen seinen hochfliegenden Plänen und der eher kargen Wirklichkeit. Und eher fühlt er sich verkannt und angefeindet, als dass er die Ursachen dafür auch bei sich zu suchen bereit ist. Eine gewisse grundständige Oppositionshaltung ist bei ihm auch schon vor der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus erkennbar, und sie mag seinen Weg in den Widerstand begünstigt haben. Vielleicht war er viel unsicherer und weniger in sich ruhend, als er sich – dies kompensierend – in seinen Briefen und Schriften selbst darstellte; in Plänen und Träumen sah er sich in ganz anderen Positionen, als er sie wirklich bekleidete, und nicht zuletzt im Widerstand als derjenige, der übrigblieb und – vielleicht als einziger – Zeugnis ablegen konnte.

Auf der anderen Seite aber war Kurt Gerstein auch ein die Wahrheit in quälender Selbstprüfung Suchender, der sich immer wieder mit den Anforderungen, die er selbst an sich und andere an ihn richteten, auseinandersetzte. Seine Briefe kennen nicht nur den hohen Ton der Selbstrechtfertigung und Kritik an anderen, sondern auch den dunkleren – und wohl wahreren – der Auseinandersetzung mit den Erwartungshaltungen seiner Familie und den Forderungen seines Glaubens, ja seines Gottes. Vor allem in dem Brief vom 6. März 1934 an seinen Freund Alfred Bensch, in dem er diesem seine Zuneigung zu dessen Schwester Elfriede gesteht, gibt er einen ausführlichen und stellenweise schonungslosen Bericht über sich, seine jugendlichen Irrwege und seinen Weg zurück zum Glauben.6 Hier ist es nicht der großsprecherische, sondern jener andere eher unsichere und suchende Kurt Gerstein, der mit Aufrichtigkeit und Selbsterkenntnis über sich spricht. Sein Glauben an Gott, an Christus, ist ein fester und gefestigter, gerade weil er ihn sich schwer erkämpft hat, und dieser bleibt auch – bei aller Unsicherheit und Versuchung im Einzelnen – der Leitfaden in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Anders als mancher Kirchenführer, auch der Bekennenden Kirche, war Gerstein nicht bereit, hier Abstriche zu machen und Kompromisse einzugehen.

Auch im Schriftwechsel mit seinem Vater zeigt sich ein zunehmender Wille zur Unbedingtheit. Die schlichte Beamtenweisheit seines Vaters, man habe eben zu gehorchen, die Verantwortung trage dann der Vorgesetzte, vermag Gerstein immer weniger zu befolgen. Die beiden Briefe vom 5. März und (undatiert) vom Herbst 1944 zeigen ihn in selbstbewusstem Gegensatz zu seinem Vater: Er wirft ihm vor, die sittlichen Grundlagen, die er selbst der Erziehung seiner Kinder zugrunde gelegt hatte, nun zu verlassen: „Was mir so außerordentlich schwierig ist, ist dies, zu begreifen, wie dem Zweck so nahezu jede Hemmungen, Begriffe und Massstäbe geopfert werden.“ Und er beruft sich auf die Ideale der Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, auf das Gewissen: „Mögen dem einzelnen auch noch so enge Grenzen gesetzt sein und mag in vielem die Klugheit als die vorherrschende Tugend befolgt werden, niemals dürfte der einzelne seine Massstäbe und Begriffe verlieren.“ Schließlich weist er, der Sohn, den Vater darauf hin, dass auch er für seine Zeit, für das Geschehen in ihr, mit geradestehen müsse, und dieser Zeitpunkt könne eher als erwartet kommen.7 Gerstein setzt gegen Pflichtbewusstsein und Verantwortungsflucht des Vaters die eigene Entscheidung, Befehle nicht zu befolgen: „Ich habe meine Hände zu nichts hergegeben, was mit diesen allem zu tun hat. Wenn ich und soweit ich derartige Befehle erhielt, habe ich sie nicht ausgeführt und die Ausführung abgedreht. Ich selbst gehe aus dem ganzen mit reinen Händen und einem engelreinen Gewissen heraus. Das ist mir ausserordentlich beruhigend. Und zwar: Nicht aus Klugheit! Was heißt hier sterben? Sondern aus Prinzip und Haltung: ‘Habe Du nichts zu schaffen …’“8

So hatte sich Kurt Gerstein letztlich doch von dem zeitweise übermächtigen Vatervorbild emanzipiert. Die eben zitierten Briefe schickte Ludwig Gerstein, der Vater, am 24. Nov. 1946 an seine Schwiegertochter Elfriede, da sie, wie er glaubte, Kurt Gerstein entlasten würden. Hier gibt der Vater zu, dass Kurt gegenüber der Maxime des Vaters – „Die Verantwortung trägt der Befehlende, nicht der Ausführende. Ungehorsam gibt es nicht, Du hast zu tun, was Dir befohlen wird.“ – „mit Recht anderer Ansicht“ war. Allerdings habe er, der Vater, „solche Scheußlichkeiten, wie sie später aufgedeckt worden sind, nicht für möglich gehalten“.9

Aber auch Kurt Gerstein stand nicht in so unbedingter Opposition zu Nationalsozialismus und NS-Staat, wie es die eben zitierten Aussagen vermuten lassen könnten. Auch Kurt Gerstein erlangte erst allmählich die Einsicht in Taktik, Strategie und Ziele des Regimes; immerhin kam er doch schon 1938 in einem Brief an seinen Onkel Robert Pommer und dessen Sohn Robert10 zu einer erstaunlich klarsichtigen Analyse der Situation in Deutschland. Dieser Brief, den Gerstein von einer Mittelmeerreise in die USA schickte, der also nicht die deutsche Zensur durchlief, erlaubte ihm deutliche Worte: Klar erkennt und benennt er den Totalitätsanspruch des Nationalsozialismus, der „den Menschen in allen seinem Wesen nach Leib und Seele restlos erfassen und beherrschen“ wolle; entsprechend halte man „jede ernsthafte Bindung an Gott für höchst überflüssig und schädlich“. Praktisch unternehme der Nationalsozialismus einen Frontalangriff auf den christlichen Glauben: „Es handelt sich darum auch gar nicht mehr um frühere Fronten: Hier Deutsche Christen, dort Bekenntniskirche oder Niemöller, sondern darum: soll das deutsche Volk, die deutsche Jugend, weiter in irgend einer ernst zu nehmenden Form etwas von Gott wissen und hören, oder soll sie nur an die Blutfahne, an Kult- und Weihestätten, Blut und Boden, Rassen glauben? Soll man in Deutschland wissen, daß Gerechtigkeit – hier ist wieder dieser für Gersteins Denken so bezeichnende Begriff ein übergeordneter, höherer Begriff ist, dem Zugriff des Menschen entzogen … und daß derjenige, der Recht spricht, dies in der Vollmacht und der Verantwortung vor dem Höchsten Richter tun muß. Oder ist ‘Recht das, was dem Volke nützt’, ist es eine einfache Zweckmäßigkeitssache, ist die Justitia eine Hure des Staates?“ Dagegen habe die kirchliche Opposition nur die Rechte zu verteidigen gesucht, die der Kirche vom Staat garantiert worden seien: „Wir haben von vornherein den Nationalsozialismus politisch weitestgehend bejaht … Wir alle haben uns bemüht, wo wir Widerstand erleben mußten, nicht den politischen Nationalsozialismus zu treffen … Aber wir waren der gegen uns anstürmenden Unwahrhaftigkeit und verlogenen Zielklarheit leidenschaftlicher Gegner ausgesetzt.“ Trotzdem sei Widerstand nicht sinnlos, weil das Regime „das Urteil der Öffentlichkeit im Ausland und im Inland zu fürchten hätte. … So wird das Gewissen der Nation doch einigermaßen wach gehalten und noch Schlimmeres verhütet.“

“Schlimmeres verhüten” das ist nun ein viel gebrauchtes und mißbrauchtes Argument jener, die bei den Nationalsozialisten mitmachten, für das Regime arbeiteten und sich durch vermeintliche oder wahre zumeist kleine oppositionelle Aktivitäten so selbst ein Alibi ausstellten. Dass man Widerstand leisten müsse, um Schlimmeres zu verhüten, kehrt dieses Argument, das sonst eben die Anpassung rechtfertigen sollte, so eigentlich um: nur ein geringes Ziel bleibt dem Widerstand, eben Schlimmeres zu verhüten. Dass dies eben auch einem kirchlich motivierten und beschränkten Widerstand aber nicht gelang, zumal unter den isolierenden Bedingungen des Krieges, als die öffentliche Meinung des Auslandes keine Wirkung mehr besaß und im Inland Zensur und Kriegsberichterstattung alles dominierten, musste auch Gerstein angesichts von Euthanasie und Holocaust erfahren. Immerhin war er dann schon wieder einen Schritt weiter als die sonstigen Vertreter der kirchlichen Opposition gegangen: nämlich hinein in den Macht- und Terrorapparat der SS.

Dass seine beruflichen Schwierigkeiten – 1941 beim Eintritt in die SS war Gerstein 35 Jahre alt, hatte eine Familie zu ernähren, aber beruflich immer noch nicht festen Fuß gefaßt – ihm diesen Entschluss erleichtert haben, muss zugestanden werden. Aber auch das im Gerstein-Bericht genannte Motiv, nämlich “… auf jeden Fall den Versuch zu machen, in diese Öfen und Kammern hineinzuschauen um zu wissen, was dort geschieht”, muss akzeptiert werden. Dass Gersteins Karriere in der SS ihn so zielstrebig nach Belzec und Treblinka führte, erscheint selbst, wenn man diesen Entschluss voraussetzt, als kaum glaubhaft, ohne diesen Willen und ohne diese Zielsetzung aber absolut unwahrscheinlich. Gerstein tat diesen Blick in den “Feuerofen des Bösen”, der seine zukünftige Bestimmung endgültig entschied: die Versuche, Zyklon-B-Lieferungen umzuleiten, unschädlich zu machen und zu sabotieren, die kirchliche Opposition und das Ausland zu alarmieren, schließlich als Zeitzeuge des Schrecklichen zu überleben. Das Leiden der Menschen, das er mit ansah, besiegte die auch bei ihm vorhandenen antisemitischen Ansätze; er sah nicht mehr den Juden, nur noch den leidenden und sterbenden, den gemordeten Menschen. Dass er weiter in der SS und auf seinem Posten seine Pflicht tat, damit zu Hitlers Krieg beitrug, dass er so auch schuldig wurde, kann angesichts der so einzigartigen Leistung Gersteins kaum gegen ihn eingewandt werden, war dies doch die Voraussetzung für seine Untergrundtätigkeit. Diesen Zwiespalt scheint er bewusst getragen haben; letztlich ist er in der französischen Haft, aber eben erst dort, wo man ihm nicht glauben wollte, an ihm zerbrochen. Peter Steinbach nennt Gerstein nicht ohne Grund “den Einzeltäter im Dilemma des exemplarischen Handelns”.11

Ein interessanter und vielleicht noch zu wenig beachteter Lebensabschnitt Gersteins – gerade im Blick auf seine Stellung im und zum Widerstand – scheint mir die Phase der SS-Ausbildung 1941 zu sein. Gerstein empfand sie als sehr hart, aber bejahte sie auch („Die Härte dieser selbst gewählten Schule übertrifft selbst kühne Erwartungen. Das heisst nicht, dass ich diese Härte nicht bejahte.“12 ) Sie erinnerte ihn an die Haft in Welzheim, aber trotzdem „kann ich es nicht bedauern, hierher gekommen zu sein. … Ich erkenne hier, was wesentlich ist.“13 Trotz des mehrfachen Eingeständnisses, „auf seinem schwächsten Querschnitt“ zu arbeiten, versuchte er durchzuhalten und „nur mit Zähigkeit und Willen – meiner einzigen Waffe und meinen positivsten Eigenschaften – “ die Ausbildung als bester zu absolvieren.14 Der Stolz auf diese Leistung, auf das Mithalten-Können trotz seines vergleichsweise hohen Alters machte ihn auch anfällig für das Leistungsbewusstsein der SS als einer, wie Gerstein schreibt, „absoluten Elitetruppe“: „Ich hatte insgesamt viel Härte und Strenge erwartet. Aber was hier geboten wird, geht über das vorstellbare Maass. Da ist – bewusst – jede Heereseinheit ein Dreck dagegen. Es gehört ein Unmaas von Zähigkeit und ein leidenschaftlicher Wille dazu, dies in meinen Jahren zu bestehen. Hier herrscht eine selbst mir, der ich vieles erlebte, beispiellose Härte, die das Allerletzte aus dem einzelnen herausholt. … Dass man dabei selbst auch unendlich viel härter wird, ist eine ganz natürliche Folge. Würde man es nicht, würde man zerbrechen.“15 Zu der Härte der Ausbildung kam die erste Anschauung dessen, was in den Konzentrationslagern geschah, so etwa in Oranienburg: „Hierzu die Nachbarschaft, über den Zaun.“16 [ Bei aller Bedeutung dessen, was das Erlebnis von Belzec für Gerstein bedeutete, darf nicht übersehen werden, daß er im Rahmen seiner Ausbildung und seiner Tätigkeit in der SS natürlich schon vorher Konzentrationslager kennenlernte. Allenfalls ein Vernichtungslager konnte noch neu für ihn sein.]

Nach der Ausbildung kam das Interesse, ja die Freude an der „außerordentlich grosszügig gedachten Stellung“,17 an der „unerhört interessanten“ Tätigkeit18 und dem neuen Platz, „wo ich in der Tat ungeheuer viel nützen und – verhindern kann“,19 hinzu, ebenso der schmeichelhafte schnelle Aufstieg in der SS-Hierarchie. Gerstein stand, gerade auch wenn man die Betonung der Härte der Ausbildung in seinen Briefen auch ein wenig als Selbststilisierung dessen, der auch solchen Anforderungen gerecht wird, bewertet, in der Gefahr, dem speziellen Leistungsethos der SS zu verfallen, das Hans Buchheim so eindrücklich beschrieben hat: „Im Alltag der SS entstand aus der Verquickung von Pragmatismus und dem heroischen Prinzip des Kampfes um seiner selbst willen die Vergötzung der Leistung um ihrer selbst willen. Tatsächlich maßgebender Wert wurde die Leistungsfähigkeit schlechthin. Der ideale SS-Mann setzte seinen Ehrgeiz darein, jeden Auftrag auszuführen, ohne viel nach dessen Sinn und Berechtigung zu fragen oder sich Rechenschaft über die angewandten Mittel zu geben.“20

Trotzdem scheint Gerstein auch in diesem entscheidendem Jahr 1941 und trotz des Gefühls, eine sinnvolle Tätigkeit auszuüben und den Respekt seiner Vorgesetzten gewonnen zu haben, nicht seine Absicht, derjenige zu sein oder zu werden, “der die Dinge von innen miterlebt habe und darum Zeuge erster Hand sein könne”, aus dem Auge verloren zu haben.21 Jedenfalls hat er sich so immer wieder gegenüber Freunden, denen er seinen Wechsel zur SS erklären zu müssen glaubte, erklärt. Dass er dann tatsächlich 1942 in die Lager Belzec und Treblinka reisen und die mörderische Wirklichkeit der Vernichtungsmaschinerie kennenlernen sollte, hat er selbst als Zufall bezeichnet, der ihn “an das Ziel führte, in diese Maschinerie den lang ersehnten Einblick zu erhalten. Ich hatte auch nicht die leisesten Bedenken. Denn wenn ich den Auftrag nicht übernommen hätte, hätte ihn ein anderer im Sinne des SD ausgeführt.22 Dass hier ein Zufall seinem Sinnen und Trachten zuhilfe kam, mag Gerstein als Bestätigung seiner persönlichen Mission und seines speziellen Sabotage-Auftrags empfunden haben.

Es bleibt die Frage nach Gersteins Stellung in der Bekennenden Kirche. Hier wirkt er eher randständig; sein Bemühen um die Jugend war zwar auch eine Sorge der BK, doch stand zunächst der Kampf um die verfasste Kirche im Mittelpunkt. Auch schien mit der Eingliederung der evangelischen Jugendverbände in die Hitler-Jugend zumindest der Kampf um eine eigene kirchliche Jugendorganisation schon früh entschieden und verloren zu sein. Der “seltsame Heilige”, wie sogar der ihm eigentlich noch am ehesten geistesverwandte Martin Niemöller Gerstein nannte, wurde von den offiziellen Kirchenführern vielleicht sogar nicht immer ganz ernst genommen: Zu sehr unterschieden sich Gersteins leidenschaftliche Sprache, sein Engagement und Temperament, sein Einsatz für die sexualpädagogische Schriftenmission, ja eine gewisse Undiszipliniertheit von ihrer Kunst vorsichtiger, oft theologisch verbrämter Formulierungen, von ihrer behutsamen Taktik und zurückhaltenden Kompromissbereitschaft. Und oft mögen sie in Gerstein nur den lästigen Bittsteller um Geld für eine zwar wichtige, aber nicht gerade erstrangige Sache gesehen haben. Natürlich kannte Gerstein viele der führenden BK-Leute und wusste sich diese Tatsache zunutze zu machen, aber gelegentlich scheint er auch hier die Enge der Kontakte übertrieben dargestellt zu haben.

Kurt Gerstein während seiner Ausbildungszeit

Auch was den Kirchenkampf angeht und vor allem das Schicksal der evangelischen Jugendarbeit, sah Gerstein relativ klar den Konflikt voraus. Dies machen etwa die zwei Briefe vom 7.7. und 14.8.1933 an seinen Freund und Mitstreiter Egon Franz deutlich.23 Dass die HJ alle Jugendlichen beanspruchen würde, war ihm klar, und er brachte der HJ durchaus Sympathien entgegen. Aber ebenso klarsichtig sah er den entscheidenden Unterschied, nämlich die fehlende christliche Grundlage der HJ-Erziehung, ja ihre bewusst antireligiöse Ausrichtung. Deshalb fühlte er sich getrieben, die “unsichtbare Kirche” mit einer “Kernjungmannschaft” zu bilden und die sichtbare Kirche den anderen, “damit sie darin ihr Trara, ihre ‘Massenmission’ machen können”, zu überlassen.24 Eine solche “immer mehr verflachende Einheits-Staats- und Reichskirche” würde zu einem Instrument des Staates werden; dies sei das Ende der “protestantisch-evangelischen Kirche um das Wort Gottes herum”. Die Gefahr einer Jugend, die ohne Kontakt zu Christus aufwächst, und eines Volkes ohne Gott beschwört er eindringlich: Das Christentum sei immer eine “ärgerliche Sache”; aber nur in dem Bewusstsein der Verpflichtung vor Gott könne das Böse bekämpft werden; Gott werde letztlich ein gottlos gewordenes Volk vernichten: “Gott lässt sich nicht spotten.” In diesem grundlegenden Kampf zwischen Gut und Böse, Gott und Gottlosigkeit versucht Gerstein seine Position zu bestimmen: “So fest wie möglich auf dem Boden des Nationalsozialismus stehen (z.B. speziell bei mir: an der geistigen Arbeit zur nationalsozialistischen Durchdringung der Wirtschaft mitkämpfen.) Aber unter allen Umständen sich zäh anklammern an die Bekenntnisgrundlagen der Kirchen und da – ohne Rücksicht auf irgend eine äussere Macht oder auch Entwicklung … nicht auch nur um Fingerbreite nachgeben.”25 Und am 18.3.1934 ebenfalls an Egon Franz: “In mir wächst, im Gegensatz zu mancher früherer Feigheit, Schüchternheit und Zurückhaltung, mehr und mehr der Mut, jedermann ein ganz klares Zeugnis abzulegen: Jesus Christus der Herr! Das zu bezeugen wird mir ein immer mehr unausweichbares Muss.”26

Dies ist eine ganz andere, wenn auch persönlichere Sprache, und selbst wenn man Gersteins Hang zur packenden Formulierung, zum starken Wort in Rechnung stellt, wird doch die ganz persönliche Ergriffenheit, das Ergriffensein von einer Aufgabe, die sich aus der Sorge um Jugend und Volk ergibt, fassbar. Das ist mehr als das kirchenpolitisch bestimmte Taktieren vieler in der BK: Gerstein sieht sehr klar sowohl die augenblickliche Sachlage als auch den unausweichbaren Grundkonflikt zwischen (einem Teil des?) Nationalsozialismus (so er sich denn nicht ändern lässt) und der christlichen Kirche. Und er zieht auch ganz persönlich die Konsequenzen, indem er sich um jeden der ihm anvertrauten Jugendlichen kümmert, ihnen schreibt, ganze Sonntage mit Konfirmandenunterricht, Kindergottesdienst, Bibelarbeit verbringt, persönliche Gespräche führt usw. Hierhin gehört auch seine publizistische Tätigkeit, mit der er die Jugendlichen erreichen wollte, die er nicht persönlich treffen konnte. Auch wenn seine Ansichten auf dem Gebiet des sexuellen Jugendschutzes heute (und vielleicht schon damals) altfränkisch anmuten, so lag doch eine gewisse Sensation darin, dass er in einer Zeit, in der Gott zunehmend für überflüssig gehalten wurde, mit Ernst und Überzeugung auf die zentrale Bedeutung des Christseins für die Gestaltung des eigenen Lebens hinwies. – Dass von diesem letztlich radikalen Standpunkt her Gerstein nicht immer in der Lage war, den offiziellen BK-Kurs mitzugehen und an manchen Entscheidungen und Kompromissen Kritik übte, ist leicht einsichtig.

Versucht man, an Hand der vorhandenen (und einiger der hier zitierten) Quellen sich ein Bild von Kurt Gerstein und eine möglichst begrifflich abgesicherte Einschätzung seines Widerstandes zu machen, so liegen die Schwierigkeiten auf der Hand: die Widersprüche in der Person und in der Zeit erschweren ein einheitliches Urteil, und die am Anfang genannten Begriffsbestimmungen von Widerstand scheinen nicht recht zu passen. Vielleicht ist ein prozessualer Widerstandsbegriff, wie ihn auch Peter Steinbach einmal gefordert hat, angemessener, der sich jeweils an die veränderte Zeit- und Bewusstseinslage anpasst und sich auf die persönlichen wie politischen Voraussetzungen möglichen Widerstandes hin orientiert. Auch Gersteins Lebensweg verläuft ja nicht gradlinig auf ein einziges Lebensziel hin; immer wieder wechseln Zeiten des Zögerns, der Ziellosigkeit und eines unsteten Sich-Treiben-Lassens mit Perioden entschlossenen Handelns, wo ihm dann alles zu gelingen scheint. Vielleicht ist das eines der Geheimnisse der Person Gersteins: das lange, unentschlossenen Suchen nach dem richtigen Weg, dann aber das zielstrebige und entschlossene Handeln. Damit hängen vielleicht auch die wechselnden Gesichter, die uns Kurt Gerstein zeigt, ursächlich zusammen: das spröde Verschlossensein, das Sich-Absondern, der Wunsch nach Stille und Für-Sich-Sein, und auf der anderen Seite das Streben nach Zusammensein mit seinen Jungen, das Suchen nach Gemeinschaft, die enge Verbundenheit mit Freunden, ja ein Charme und ein Charisma, die ihn überall zum Mittelpunkt machten.

Das Rebellische, das schon den Sohn und Schüler auszeichnete, scheint ein Grundzug seines Wesens zu sein. Es verhindert die vorbehaltlose Übernahme vorgegebener Meinungen, Überzeugungen und Glaubensinhalte. Gerstein beansprucht gerade zwischen den Lagern der Bekennenden Kirche und des Nationalsozialismus seinen eigenen Platz, und er findet ihn auf der Grundlage eines eigenen Glaubenserlebnisses, einer Glaubensüberzeugung, in deren Mittelpunkt ein alttestamentlich strenger, fordernder und strafender Gott steht. Des Widerspruchs zwischen dessen unabdingbarem Anspruch und der Unzulänglichkeit des Menschen war sich Gerstein schmerzhaft bewusst. Das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen, hat ihn nie verlassen; immer wieder hat er sich selbstquälerisch geprüft. Sein Streben nach Sauberkeit, nach körperlicher und moralischer Hygiene, der Wunsch, selbst im Geschehen der NS-Massenvernichtungs-maschinerie „reine Hände“ zu behalten, seine Jungen vor Gottlosigkeit und sittlicher Verderbheit zu bewahren – all dies gehört zum Bild eines geforderten und sich selbst fordernden Menschen.

Dass Gerstein lange auch an das Gute im Nationalsozialismus, oder besser: an das Gute auch in Nationalsozialisten geglaubt hat, darf nicht verwundern: Politisch erfüllte der Nationalsozialismus die Wünsche eines konservativ-nationalen Bürgertums, aus dem auch Gerstein kam, und er band viel und vor allem jugendlichen Idealismus, den auch Gerstein hoch einschätzte, in welchem Lager auch immer. In den Jahren des Nationalsozialismus aber erstarkte seine Einsicht in die grundlegende Gottferne von Ideologie und NS-Staat – eine um so erschütterndere Erkenntnis, als eben der Glaube an Gott und seine Gerechtigkeit ein, vielleicht der Kern von Gersteins Weltauffassung war. Was er in der SS erlebte, führte ihn dann zu einem verdeckten, aber nichtsdestoweniger aktiven Widerstand, den er bis zum Schluss durchhielt: ein SS-Offizier, der kriegswichtige Arbeit tat, aber gleichzeitig sabotierte und informierte. Mehr konnte er nicht tun, und was er tat, blieb weitgehend folgenlos. Als SS-Offizier verlor er den Anschluss an die BK, nicht die Verbindung zu einzelnen BK-Mitgliedern, und er fand nicht den Kontakt zu anderen Widerstandsgruppen. Er blieb allein, ein Einzeltäter, und führte ein Leben “auf des Messers Schneide”. “Resistent” gegenüber dem Nationalsozialismus war er nicht immer und nicht von Anfang an, Ñverweigertì hat er sich zunächst nur partiell und sektoral, aber er fand in der Konfrontation mit dem Massenmord doch zu der einzigartigen und nur ihm möglichen Widerstandstätigkeit, für die uns nun doch letztlich der Begriff fehlt.

(Prof. Dr. Bernd Hey)

Anmerkungen:
1 Dieter Ehlers, Technik und Moral einer Verschwörung. 20. Juli 1944, Frankfurt a.M./Bonn 1964

2 Martin Broszat, Resistenz und Widerstand. Eine Zwischenbilanz des Forschungsprojekts, in: Martin Broszat/Elke Fröhlich/Anton Grossmann (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit IV: Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt, Teil C, München/Wien 1981, S. 691-709

3 Richard Löwenthal, Widerstand im totalen Staat, in: Richard Löwenthal/Patrik von zur Mühlen (Hg.), Widerstand und Verweigerung in Deutschland 1933 bis 1945, Berlin/Bonn 1982, S. 11-24

4 Rudolf Schlögl/Hans-Ulrich Thamer (Hrsg.), Zwischen Loyalität und Resistenz. Soziale Konflike und politische Repression während der NS-Herrschaft in Westfalen, Münster 1996

5 Die besten Überblicke in den Sammelbänden von Peter Steinbach „Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus“ (mit Jürgen Schmädeke), München 1985, „Widerstand“, Köln 1987, „Widerstand gegen den Nationalsozialismus“ (mit Johannes Tuchel), Bonn 1994, sowie „Widerstand im Widerstreit“, Paderborn 1994, hier vor allem S. 39 ff „Der Widerstand als Thema der politischen Zeitgeschichte. Ordnungsversuche vergangener Wirklichkeit und politischer Reflexionen“

6 LKA BI (= Landeskirchliches Archiv Bielefeld) 5,2 NS 65a (5,2= Kurt-Gerstein-Archiv, NS= Neue, AS=Alte Sammlung)

7 LKA BI 5,2 NS 29

8 LKA BI 5,2 NS 1

9 LKA BI 5,2 AS 59, Fasc. 1

10 LKA BI 5.2 NS 35

11 Peter Steinbach, Kurt Gerstein. Der Einzeltäter im Dilemma des exemplarischen Handels, in: JbWfKg 91, 1997, S. 183-197

12 LKA BI 5,2 NS 92

13 LKA BI 5,2 NS 98

14 LKA BI 5,2 NS 128

15 LKA BI 5,2 NS 100/130

16 LKA BI 5,2 NS 45

17 LKA BI 5,2 NS 131

18 LKA BI 5,2 NS 122

19 LKA BI 5,2 NS 198

20 Hans Buchheim, Befehl und Gehorsam, in: Buchheim/Broszat/Jacobsen/Krausnick, Anatomie des SS-Staates, Bd.1, München 1967 (dtv 462), S. 241

21 Jürgen Schäfer, Kurt Gerstein – Zeuge des Holocaust. Ein Leben zwischen Schülerbibelkreisen und SS (Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte, Bd. 16), Bielefeld 1998

22 ebd.

23 LKA BI 5,2 NS 177 u. 178

24 LKA BI 5,2 NS 177

25 LKA BI 5,2 NS 178

26 LKA BI 5,2 NS 183