Biographie

Kurt Gerstein wurde am 11. August 1905 in Münster/Westfalen geboren. Die Familie Gerstein ist eine in Westfalen relativ bekannte und renommierte Familie, die vor allem in Justiz und Wirtschaft immer wieder leitende Positionen besetzt hat. Kurt Gersteins Vater war Landgerichtspräsident; die vielfachen Versetzungen seines Vaters im Justizdienst führten dazu, dass Kurt Gerstein seine Jugend in verschiedenen Städten verbrachte: 1905-1911 Münster, 1911-1919 Saarbrücken, 1919-1921 Halberstadt und 1921-1925 Neuruppin. In Neuruppin machte Kurt Gerstein auch das Abitur.

Kurt Gerstein war das sechste von sieben Kindern und war im Kreis seiner Geschwister das, was man heute ein auffälliges Kind nennt. Seine Mutter fand ganz offensichtlich keinen Kontakt zu ihm; der Vater blieb aber zeit seines Lebens eine bestimmende Figur, mit der sich Kurt Gerstein immer wieder auseinander setzte. Dabei war das Verhältnis von Vater und Sohn ausgesprochen schwierig; erst sehr spät, nach Gersteins Tod, hat sein Vater die Lebensleistung seines Sohnes zu würdigen gewusst. In der Schule war Gerstein trotz aller Intelligenz ein schlechter Schüler, der eher durch Streiche als durch gute Arbeit auffiel. Dies scheint sich erst in der Neuruppiner Zeit geändert zu haben. Hier fand er auch Kontakt zu den Söhnen des dortigen Superintendenten und damit zu einem christlich geprägten Familienleben. Entsprechend schloss er sich nach dem Abitur an die protestantische Jugendbewegung, das heißt an den CVJM und die Schülerbibelkreise an. Die eigentliche Zuwendung zu einem sehr persönlich erlebten und gelebten Christentum fällt aber in seine Studienzeit; Gerstein studierte Bergbau in Aachen, Marburg und Berlin. Man kann durchaus von einem Bekehrungserlebnis sprechen, das Kurt Gerstein nach schweren inneren Kämpfen, bei denen es auch um die Frage der eigenen Sexualität ging, erlebt hat. Das Korporiertenwesen – alle Gersteins traten einer Studentenverbindung bei – stieß ihn ab, und so fand er den Weg zur evangelischen Jugendarbeit. Sein Studium schloss er im Juli 1931 mit dem Grade eines Diplom-Ingenieurs ab, danach folgte die Ausbildung zum Bergassessor, die er im November 1935 abschließen konnte. Im Mai 1933 wurde er auf Drängen der Familie Mitglied der NSDAP, auch aus beruflichen Gründen.

Der beginnende Kirchenkampf nahm in sofort in Anspruch, so übernahm er im Oktober 1933 die Leitung der Schülerbibelkreise und protestierte Ende 1933 heftig gegen die Übernahme der evangelischen Jugend in die HJ. 1935 kam es während einer Theateraufführung in Hagen zum Eklat, als Gerstein lautstark gegen atheistisches Gedankengut eines neugermanischen Stückes protestierte und im Theater verprügelt und niedergeschlagen wurde. Als er 1936 im Auftrag der Saargrubenverwaltung die Hauptversammlung des Vereins deutscher Bergleute vorbereitete, nutzte er diese Gelegenheit zur Propaganda im Sinne der Bekennenden Kirche. Dies führte zu seiner vorübergehenden Verhaftung durch die Geheime Staatspolizei, aber auch, was noch schwerwiegender war, zum Ausschluss aus der NSDAP und zur Entlassung aus dem Staatsdienst. Damit war seine Karriere als Bergassessor zu Ende. Zwar hat Gerstein, wiederum auf Drängen seiner Familie, den Ausschluss aus der NSDAP angefochten, es gelang aber nur, den Ausschluss in die etwas ehrenvollere Entlassung aus der NSDAP umzuwandeln.

Mit dem Ende seiner Karriere im Bergbau stand Gerstein vor erheblichen wirtschaftlichen Problemen. Zwar konnte er aus einer Firmenbeteiligung der Familie, aus der ihm eine monatliche Rente zustand, zunächst den Gehaltsverlust überbrücken, doch hatte er offenbar Schwierigkeiten, eine neue Stellung zu finden. Er begann im Dezember 1936 ein Medizinstudium in Tübingen, arbeitete aber auch vorübergehend immer wieder für kürzere Zeiten unter anderem im Kali-Bergbau der Wintershall AG. Im August bzw. November 1937 heiratete er Elfriede Bensch, die Schwester seines besten Freundes Alfred Bensch. Die kirchliche Trauung nahm Generalsuperintendent Dibelius, einer der führenden Gestalten der Bekennenden Kirche in Berlin-Brandenburg, vor. Im Juli 1938 wurde Gerstein erneut verhaftet und diesmal in das Konzentrationslager Welzheim verbracht. Die ausgesprochen schlechten Bedingungen der Haft ließen ihn zum ersten Mal mit dem Gedanken an Selbstmord spielen, den er dann später in französischer Internierung auch vollziehen sollte. Hintergrund dieser zweiten Verhaftung war abermals seine Arbeit in den Schülerbibelkreisen, die er gegen das atheistische Gedankengut des Nationalsozialismus immun machen wollte. In diesem Zusammenhang ist auch an die Schriftenmissionsarbeit Gersteins zu erinnern, die vor allem sich auf sexualpädagogische Fragen richtete.

Hochzeitsbild von Ehepaar Gerstein vom 2.11.1937 in Bad Saarow

Um die Jahreswende 1940/1941 vollzog sich dann eine ausgesprochen überraschende Wende in Gersteins Laufbahn; er meldete sich als Freiwilliger bei der SS und trat im März 1941 in die Waffen-SS ein. Natürlich haben seine Freunde und Bekannten diesen Schritt zunächst nicht verstanden, doch hat Gerstein schon damals ihn mit jener Absicht erläutert, die er später auch in seinem berühmten Bericht genannt hat, nämlich einen Blick hinter die Kulissen in die „Feuerofen des Bösen“ zu tun, um herauszubekommen, was wirklich geschah. Als ein zusätzliches Motiv mag auch die Ermordung einer geistig behinderten Schwägerin im Zuge des Euthanasie-Programms gelten. Gerstein erhielt eine militärische Ausbildung in Hamburg, Arnheim und Oranienburg und wurde dann zum Hygiene-Institut der Waffen-SS versetzt. Hier machte er schnell Karriere, weil sowohl seine Medizin- als auch seine praktischen Kenntnisse ihm zugute kamen. Es gelang ihm, mehrfach Fleckfieber- und Typhus-Epedemien erfolgreich zu bekämpfen. So wurde er als Chef der Abteilung „Gesundheitstechnik“ bis zum Obersturmführer befördert. Damit konnte er auch seine Familie auf eine bessere wirtschaftliche Grundlage stellen, zumal ihm inzwischen ein Sohn und eine Tochter (ein zweiter Sohn sollte noch folgen) geboren waren.

Tatsächlich gelang es Gerstein, seiner ursprünglichen Absicht entsprechend einen Blick in die Konzentrationslager zu tun. Er erhielt den dienstlichen Auftrag, bei Erprobungen des Zyklon-B-Gases, mit dem in Belzec und Treblinka Häftlinge umgebracht wurden, anwesend zu sein. Die Erlebnisse in Belzec und Treblinka hat er später in dem sogenannten Gerstein-Bericht niedergelegt, in dem er ausführlich und eindrucksvoll die Mordversuche einmal mit Autoabgasen, zum anderen mit Zyklon B schildert. Auf der Rückfahrt von Treblinka traf er am 20. August 1942 im Zuge den schwedischen Gesandtschaftsrat Baron von Otter, dem er seine Erlebnisse erzählte mit der Bitte, diese an das Ausland weiterzugeben. Dies hat von Otter auch getan. Ein Versuch, in ähnlicher Absicht den Apostolischen Nuntius in Berlin zu treffen, scheiterte. Doch ist belegt, dass Kurt Gerstein die Spitzen der Bekennenden Kirche, Mitglieder des niederländischen Widerstandes und den schweizer Diplomaten Paul Hochstrasser informiert hat. Gleichzeitig hat er versucht, Zyklon-B-Lieferungen, die er über sich selbst leitete, zu sabotieren, indem er sie für zersetzt erklärte, sie für die eigene Entwesungsarbeit verbrauchte oder beseitigte.

Die Tarnung als „Spion Gottes“, wie sein französischer Biograph Joffroy ihn genannt hat, hat er während des ganzen Krieges unter großen Anstrengungen durchgehalten. Bei Kriegsende hat er versucht, nach Tübingen, wo seine Familie lebte, zu gelangen; seine Absicht war offenbar, sich den amerikanischen Truppen zu stellen. Er wurde aber von französischen Truppen in Rottweil interniert. Dort hatte er von Ende April bis Ende Mai 1945 im „Hotel zum Mohren“ den berühmten Gerstein-Bericht als Augenzeugenbericht seiner Erlebnisse in Belzec und Treblinka niedergelegt, und zwar in mehreren Fassungen: deutsch, englisch und französisch. War die Haft in Rottweil noch eine ehrenvolle Internierung, die auch ihm eine gewisse Bewegungsfreiheit ließ, so änderte sich das, als er unter der Anklage von Kriegsverbrechen, Mord und Mittäterschaft in das Pariser Militärgefängnis Cherche-Midi eingeliefert wurde. Die Verhöre, die Einzelhaft und die schlechten Haftbedingungen scheinen seinen Selbsterhaltungstrieb gebrochen zu haben. Neben Krankheitserscheinungen (Gerstein war zuckerkrank) scheint ihn vor allem die Ungewissheit über sein Schicksal zermürbt zu haben und die Verzweiflung darüber, dass er, der er immer als Zeuge der NS-Verbrechen gelten wollte, nun selber solcher angeklagt wurde. Am 25. Juli 1945 wurde Gerstein morgens in seiner Zelle erhängt aufgefunden, doch haben ominöse Begleitumstände immer wieder zu Zweifeln daran geführt, ob es sich wirklich um Selbstmord gehandelt hat. Eine wissenschaftliche Klärung steht aus, doch muss seriöserweise doch von der Selbstmordtheorie ausgegangen werden. Sein Tod ist um so tragischer, als bereits die Suche nach ihm, initiiert von Baron von Otter, angelaufen war. Gerstein wurde offenbar auch als Zeuge für den Nürnberger Kriegsverbrecherprozess gesucht.

Seine Familie erfuhr erst ein Jahr nach seinem Tode davon. Bei dem für den Rentenanspruch seiner Witwe wichtigen Entnazifizierungsverfahren erkannte die Spruchkammer in Tübingen auf „Belastet“, so dass Elfriede Gerstein sich und die Kinder mühsam mit eigener Arbeit durchbringen musste. 1953 wurde der Gerstein-Bericht zum ersten Mal in den renommierten Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte veröffentlicht. 1961 wurde Gerstein noch bekannter, als Rolf Hochhuth in seinem Stück „Der Stellvertreter“ ihn als evangelischen Partner des katholischen Pater Riccardo auftreten ließ. Beide versuchen ja bekanntlich in dem Stück, den Papst zum Eingreifen gegen die Judenmorde zu bewegen. Zwei französische Biographien von Saul Friedländer und Pierre Joffroy, die auch ins Deutsche übersetzt wurden, sowie eine kurze Biographie seines Jugendfreundes Helmut Franz führten dann doch zu einer quasi Rehabilitierung. 1965 reihte Kurt Georg Kiesinger, damals Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Gerstein gnadenhalber in die Gruppe der Entlasteten ein. Damit war eine lange Kampagne zur Rehabilitation von Kurt Gerstein zu Ende gegangen, die vor allem von seiner Witwe Elfriede Gerstein, vom westfälischen Präses Ernst Wilm und von den Hagen-Berchumer Schülerbibelkreisen, die ihr Haus nach Kurt Gerstein benannt hatten, geführt worden war; hier ist vor allem der Name des Leiters der Einrichtung Herbert Weißelberg zu nennen.

Zeichnung des Kurt-Gerstein-Hauses in Berchum

Die aus den Bemühungen um Gersteins Rehabilitation hervorgegangenen Unterlagen wurden 1970 dem Landeskirchlichen Archiv in Bielefeld übergeben. In der Folge gingen dann weitere Originaldokumente aus dem Besitz seiner Witwe in immer größerem Maße in das Archiv über, das nach dem Tode Elfriede Gersteins 1991 auch die Rechte an dem Nachlass besitzt. Zum 50. Todestag Kurt Gersteins formierte sich in Hagen-Berchum ein Förderkreis Kurt Gerstein, der sich der Arbeit an der Geschichte Kurt Gersteins und seinem Gedenken verpflichtet fühlt. Der Förderkreis veranstaltet jährlich eine eigene Tagung und hat diese neue große Kurt-Gerstein-Ausstellung für die Gedenkstätte Deutscher Widerstand erheblich gefördert und mitgestaltet. Auch die Veröffentlichung der neuen Gerstein-Biographie des Hagener Pfarrers Jürgen Schäfer ist hier in diesem Zusammenhang zu nennen.

(Prof. Dr. Bernd Hey)

Hinweis: Der Förderkreis wurde inzwischen aufgelöst.